108 Leidenschaften (Hyaku Hachi No Bonnô)

Die Einflüsse der 108 "Leidenschaften" und anderer buddhistischer Konzepte in der Gedankenwelt des Karate und dessen Ausübung.

36 der "Leidenschaften" werden im Reich der Wünsche gefunden. 32 dieser Neigungen können eliminiert werden durch die vier edlen Wahrheiten des Buddhismus:  

1. die Wahrheit vom Leiden (Duhkha)

2. die Wahrheit von der Entstehung (Samudâya) des Leidens

3. die Wahrheit von der Aufhebung (Nirodha)

4. die Wahrheit vom Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt.

Die vier edlen Wahrheiten des Buddhismus bilden die Grundlage der buddhistischen Lehre und waren die vier grundlegenden Konzepte, die der historische Buddha Shakyamuni entdeckte während seiner eigenen Erleuchtung unter dem Bodhi-Baum. Es beschreibt in hoher logischer Weise, eine Situation, die Ursache einer Situation, der Glaube dass die Situation kann erleichtert werden und dass es einen Weg gibt, die Situation zu lösen. Die Lösung, der achtfache Pfad ist eine Beschreibung des richtigen Verhaltens:

  1. Die lautere und reine Anschauung aller Dinge

  2. Die aufrichtige und ehrliche Gesinnung

  3. Führe nur wohlerwogene und überlegte Reden

  4. Bewahre rechte Lebensführung

  5. Wisse, dass Leben nur durch sich und aus sich selbst besteht

  6. Redliches Bemühen, das Gute zu tun und das Böse zu meiden

  7. Ständiges aufrichtiges Überdenken des eigenen Tun und Lassens

  8. Ständige Konzentration bei all unserem Tun und Handeln

Die vier restlichen Neigungen im Reich der Wünsche werden durchschnitten durch wahre Meditation. 31 Neigungen befinden sich in den zwei höheren Gebieten der Form und der Formlosigkeit. Zählt man die 36 Neigungen aus dem Reich der Wünsche, die 31 Neigungen aus dem Gebiet der Form und die 31 Neigungen aus dem Gebiet der Formlosigkeit zusammen, ergibt dies 98 Neigungen. Zu dieser Summe 10 Schulden, oder zweitrangige Begierden hinzugefügt ergibt die 108 "Leidenschaften" (Bonnô). 

Nach der Ausschöpfung oder der Eliminierung der 108 "Leidenschaften" durch Shugyo (die strenge Praxis der Selbstdisziplin) erreicht man ein Stadium der Erleuchtung.

Die Bedeutung der 108 Stufen, die zu einem buddhistischen Tempel führen wird nun klar. Nach jedem Schritt der getan ist, wird symbolisch eine Leidenschaft ausgelöscht. Die wahre Natur des Suchenden wird mehr und mehr heller und die Leiden verschwinden. Wenn der Tempel erreicht ist, ist der Suchende symbolisch bereit für seine Erleuchtung, dem Stadium der Leidenslosigkeit. In diesem Fall ist die symbolische Zahl 108 kombiniert mit dem Ersteigen der Stufen, welches ein kraftvolles Symbol des Bemühens ist.

Die Zahl 108 findet man auch in anderen Symbolen und Ritualen des Buddhismus. Zen-Mönche tragen einen Juzu, einen "Rosenkranz", an ihrem Handgelenk mit 108 Perlen. Das 108malige Schlagen der großen Glocke am Neujahrstag in einem Tempel repräsentiert die Auslöschung der 108 Leidenschaften. In manchen Tempeln umrunden die Mitglieder 108 mal die Glocke. Eine Besonderheit von manchen großen Glocken ist der Teil der Glocke, genannt Chinomachi, der eine Anordnung von 108 Knoten oder Knöpfen hat.

Symbole der 108 Leidenschaften im Karate

Man kann nicht verleugnen, dass die Begründer der verschiedenen Stile des Karate vom Buddhismus beeinflusst waren. Der Ausdruck "Ken Zen Ichiyo", die Faust und Zen sind eins, beschreibt wie Karate in traditionellen Karate-Dojo gelehrt wird. Idealerweise gibt es keine Teilung. Nur als ein Symbol der 108 Leidenschaften, die 108 Tempelstufen, der Rosenkranz und die Glockenschläge, so sind sie auch in den Namen und Bewegungen einiger Kata im Karate zu finden.

Zum Beispiel: die Kata Gojushiho bedeutet 54 und ist die Hälfte von 108. Wenn ein Buddhist Zahlen sieht, welche ein Faktor von 108 sind (z.B. 18, 36 oder 54) erinnert er sich sofort an die "Leidenschaften". Er denkt an die Anzahl der Stufen die zu einem Tempel führen. Der Weg führt 36 Stufen nach oben, biegt nach links ab für weitere 36 Stufen, um dann nach rechts abzubiegen für die letzten 36 Stufen. Jeder Absatz erinnert an einen Teil des Ganzen, der 108 Stufen. Numerische Symbole gibt es besonders im Gojuryu Karate. Die höchste Kata ist Suparinpei und bedeutet 108. Suparinpei ist die chinesische Aussprache der Zahl 108, während wie schon erwähnt Gojushi der Kata Gojushiho die chinesische Aussprache für 54 ist. Auch die Kata Sanseiru (36) und Seipei (18) sind Teile der Zahl 108. 

Wir wissen, dass der Buddhismus ursprünglich aus Indien kommend zuerst in China eingeführt wurde bis er nach Japan gelangte, deshalb ist es nicht verwunderlich chinesische Symbole der 108 Leidenschaften darin zu finden. Der legendäre Shaolin Tempel, von welchem die meisten Quan-Fa Stile herkommen, war ein Buddhistischer Tempel und auch der Name Shorin vom Shorin-Ryu kommt daher. Im T'ai Chi Ch'uan und anderen Formen des Quan-Fa gibt es Formen mit 108 Bewegungen und in der chinesischen Medizin gibt es 108 Hauptenergiepunkte.

Karate als Selbstdisziplin (Shugyo

"Alles ist offensichtlich schwarz und weiß, aber ohne Selbstdisziplin (Shugyo) geistig unverständlich und nutzlos." Es ist nur ein Moment, um geistig die Bedeutung der 108 Leidenschaften zu verstehen. Es ist eine andere Sache sorgfältig daran zu arbeiten sie zu eliminieren. Zazen, die sitzende Meditation, ist die höchste Form in der man Shugyo erkennen kann. Karate kann und sollte als eine Form der Selbstdisziplin praktiziert werden. 

Kata ist die Essenz des Karate - es repräsentiert Stufen um die 108 Leidenschaften zu eliminieren und kann zu einem Stadium der Erleuchtung führen. Durch die intensive Praxis der Kata erklimmt der Karateka symbolisch die Tempelstufen oder schlägt die große Glocke von sich selbst. 

Durch die Jahre der Praxis im Karate wird der Körper gut ausgebildet und die Bewegungen werden fließend. Man kennt den Unterschied zwischen Körper und Geist nicht mehr. Um diese spirituelle Größe zu bekommen, ist die Konzentration auf körperliche und geistige Kraft notwendig. Dies ist die grundsätzliche Einstellung für Menschen in Japan einer Kunst näher zukommen. Sie haben Künste entwickelt wie Karatedo, Kendo, Kyudo, Shodo, Ikebana und die Teezeremonie. Es ist das Ziel eines jeden Künstlers solch ein Stadium des Geistes zu erreichen, um sich nicht mehr länger auf die erlernte Technik verlassen zu müssen, übersteigt man das Reich der Natur und lebt gänzlich im Einklang mit der Natur und der Wahrheit des Ganzen. 

Kata ist Shugyo, schlagen und blocken ist Shugyo, Kumite ist Shugyo. . . richtiges Üben, jeder Aspekt von Karate ist Shugyo.

Andere buddhistische Symbole im Karate 

Eines ist der Ausdruck Karate selbst. Das Schriftzeichen Kara kann auch als Ku gelesen werden, welches seinen Ursprung in Sunya hat, aber auch der "kleine Kreis", auch als "Null" in der Mathematik bezeichnet. Sunya oder Sunyata bedeutet im Sanskrit "Leere", "Leerheit" oder die Abwesenheit von Dualität und Vorstellung. Nichts existiert in Ku aber alles kommt aus ihm. Es ist ähnlich wie ein Spiegel. Obwohl nichts im Spiegel existiert, ist es möglich alles in ihm zu reflektieren. 

Ich übersetze Karate nicht als "Leere Hand" im Sinne von waffenlos, sondern als "die Hand die aus der Leere kommt". 

In seinem Buch "The Essence of Okinawan Karate-Do", schreibt Sensei Nagamine Shoshin , der Begründer des Matsubayashi-Ryu, dass die Kata Kushanku "sorgfältige Übung über mehr als eine Dekade benötigt, um sie zu meistern.".

In Heiko-Dachi reißt der Übende beide Hände zuerst über seinen Kopf und bringt sie dann in einem großen Kreis nach unten. Der Kreis repräsentiert die Leere. Wie ein Kaligraph oder Shodoka seinen Geist mit dem Pinsel und der Tusche ausdrückt, wenn er Enso schreibt, drückt ein Karateka seinen Geist aus in jeder Bewegung die er bei der Ausführung der Kata macht. Genau wie Enso, ist der Anfang der Kushanku ein großer Kreis mit einem Anfangs- und einem Endpunkt.

Wir verbeugen uns immer, wenn wir das Dojo betreten und verlassen oder wenn wir unseren Sensei treffen, genauso wie es in buddhistischen Tempeln oder in Zen-Dojo praktiziert wird. Der Karategi wird immer links über rechts geschlossen, wie es Sitte in Japan ist, bereit für den Tod . . . und für Buddha. Die Hände am Anfang einer Kata werden ähnlich gehalten wie bei der Zenmeditation. Kata ist "Stehender Zen". Wenn man dies nach jahrelanger Übung hört, beginnt man sich zu wundern. Und wird nicht die Kata Sanchin auch als "Stehender Zen" bezeichnet. 

Mit der Zeit lernt der Karateka die grundlegenden Bewegungen einer Kata auszuführen und versteht den Kata Bunkai. Selbstverteidigung ist gründlich entwickelt und sowohl Körper als auch Geist sind gestärkt. An diesem Punkt muss der Schüler fragen, ist dies alles? Ist Karate einzig nach außen gerichtet und wird es an den Aktionen anderer gemessen? Sind Graduierungen, Titel und Wettkampferfolge wirklich alles, um sich selbst zu entwickeln? Wie viel Selbstverteidigung ist wirklich notwendig? 

In diesem entscheidenden Moment, mit der Stärke und Intensität, die der Schüler über Jahre des Trainings entwickelt hat, kann die Symbolik der 108 Leidenschaften und anderer buddhistische Konzepte ins Gedächtnis kommen. Er wird sich erinnern an die Stufen die zum Tempel führen, an das Schlagen der Tempelglocke und an die Namen der Kata, die Zahlen symbolisieren. Er ändert vielleicht sein Bestreben nach innen und beginnt mit dem essentiellen Prozess der Arbeit an seinem innerem Selbst, in Shugyo und im wahren Aufgehen in der Kata

Solch eine Erfahrung und deren Erkenntnis ist sehr persönlich. Ist Karate oder Budo nur ein asiatischer Sport? Vielleicht hältst du inne, wenn du das nächste Mal die Namen der Kata wie Suparinpei, Gojushiho, Sanseiru und Seipei, oder die Zahlen 108, 54, 36, oder 18 hörst und überlegst, ob ein Lehrer, längst vergessen im Lauf der Jahre, etwas über buddhistische Konzepte erzählte